Ein 14 Monate altes Mädchen krabbelt durch das Wohnzimmer und sieht seine Mutter in einer Zeitung blättern.
Die Mutter bemerkt die Aufmerksamkeit ihres Kindes und lächelt ihre Tochter an. Das Mädchen krabbelt in Richtung der Mutter, zieht sich an dem Stuhlbein nach oben und greift nach der Zeitung.
Gemeinsam rascheln sie mit der Zeitung bis das Mädchen sie auf den Boden fallen lässt. Rasch lässt sie sich fallen, greift wieder zur Zeitung und beschäftigt sich noch einige Minuten mit dem
Papier.
Was an dieser Szene so besonders ist? Sie steckt voller Lernerfahrungen.
Obwohl das Kind „nur“ mit der Zeitung spielt, macht es hierbei zahlreiche Erfahrungen:
- Es nimmt Kontakt zu seiner Mutter durch Blickkontakt auf und wird hierbei bestätigt.
- Es macht motorische Erfahrungen, indem es nach der Zeitung greift, mit ihr raschelt und die Zeitung
zieht.
- Sprachlich wird diese Szene sowohl von der Mutter als auch vom Kind begleitet. Es entstehen neue
Verknüpfungen.
- Es macht Erfahrungen zur Raumorientierung.
Vor allem Kinder lernen ständig durch Spielen und durch Handeln. Auch hier wird wieder deutlich, dass
Lernen nicht nur das schulische Lernen meint. Der Begriff „Lernen“ ist oftmals verknüpft mit bewusstem Aneignen von Fähigkeiten und Wissen. Doch das ist nur ein Teil des Lernens.
Der andere Teil läuft implizit ab, also ohne dass es uns bewusst ist und ohne ein bewusst gesetztes Ziel. Besonders Kinder lernen durch ihre Entdeckungsreise und beziehen hierbei alles ein,
was ihnen zur Verfügung steht, um zu verstehen, zu handeln und mit anderen Personen in Beziehung zu gehen.
- Kinder lernen nebenbei: Sie handeln, kommunizieren, machen sinnliche Erfahrungen, sind in Kontakt mit ihrer Umgebung – und dabei lernen sie.
- Kinder lernen ständig: Lernen, verstanden als der Zugang zu sich und der Welt und die sinnliche Auseinandersetzung mit ihr, ist ein permanenter Prozess. Auch Ruhe-/Schlafphasen können in einem gewissen Sinne zum Lernen dazugenommen werden, quasi als das »Lernen nach dem Lernen«. Denn diese Phasen nutzt das Gehirn für das Verarbeiten der Sinneseindrücke.
- Und Kinder lernen das für sie Interessante, das, was für sie in diesem Moment von Bedeutung ist. Sie lernen nicht für die Zukunft. Es geht um den Moment, in diesem Augenblick.
Kinder lernen vor allem auch durch Wiederholungen, aber auch durch Fehlversuche. So nähern
sie sich langsam ihrem Ziel, dem Erfolgserlebnis. Das Versuch-und-Irrtum-Lernen, im Englischen Trial and Error, beschreibt diesen Vorgang. Das Ausprobieren, ob mit oder ohne Erfolg ist ein
Hilfsmittel der Kinder. Hierfür benötigen sie einen Gestaltungsspielraum, der ihnen in einem Geschützen Bereich zur Verfügung gestellt werden sollte. Kinder vermeiden Langeweile. Wenn
sie sich für eine Sache nicht mehr interessieren, bedeutet das meist, dass sie hieraus genügend gelernt haben und sich dem nächsten Abenteuer widmen wollen.
In der Motivationspsychologie wurde in mehreren Studien festgestellt, was Erwachsene und
besonders auch Kinder antreibt zu lernen. Die Handlungsmotivationen bestehend aus der Autonomie (das Streben nach Freiraum), des Gemeinschaftserleben (das Streben nach Kontakt oder
Rückzug) und des Kompetenzerleben (das Streben nach Herausforderung oder Sicherheit) sind immer bemüht in einer Balance zu bleiben. Diese Motivationen gelten als die Motoren unserer Neugier
und Entdeckerlust.
Kinder, jeden Alters sind Entdecker und kleine Forscher. Sie suchen aktiv nach neuen Lernaufgaben, die sie
herausfordern und neugierig machen. Das allerdings machen sie selbst, aktiv und selbstbewusst. Hier muss der Erwachsene nicht zwingend eingreifen. Jedoch sollte er dem
Kind zu jeder Zeit eine angemessene Rückversicherung, eine Bestätigung oder Hilfestellung geben, wenn das Kind es wünscht.
Literatur
Deci, Edward L./Ryan, Richard M. (1993): Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik; in »Zeitschrift für Pädagogik« 39/2,
S. 223 − 238 Haas, Sibylle (2012): Das Lernen feiern. Lerngeschichten aus Neuseeland; Berlin, Weimar: verlag das netz
Hille, Katrin/Evanschitzky, Petra/Bauer, Agnes (2016): Das Kind − Die Entwicklung in den ersten drei Jahren. Psychologie für pädagogische Fachkräfte; Bern, Köln:
hep verlag
Hille, Katrin/Evanschitzky, Petra/Bauer, Agnes (2013): Das Kind − Die Entwicklung zwischen drei und sechs Jahren. Psychologie für Erzieherinnen; Bern, Köln: hep
verlag
Keller, Heidi (2011): Kinderalltag. Kulturen der Kindheit und ihre Bedeutung für Bindung, Bildung und Erziehung; Berlin, Heidelberg: Springer